Jan van Bakel.



Libellus Stoico-Philosophicus

Deutsche Übersetzung und Erweiterungen: Wilhelm H. (Felix) Vieregge, Januar 2022


Vorwort

0. Einleitung

1. Über Weisheit und Staunen

2. Die drei geistigen Funktionen

3. Über die Unerfüllbarkeit

4. Die drei Irrwege des Trostes

Die Religion
Die Kunst
Die Wissenschaft

5. Über die Schönheit

Was ist wahre Weisheit?


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Vorwort

Jan van Bakel, mein befreundeter, ehemaliger Kollege der Universtät (Fach: 'Computer-Linguistik') verstarb am 25.12.2021 im hohen Alter von 94 Jahren. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein Tausendsassa: Wissenschaftler, Hochschullehrer, Philosoph, Schriftsteller, Dichter und bildender Künstler, der uns ein eindrucksvolles Oeuvre auf diesen Gebieten hinterlassen hat. Seine Bronze-Skulpturen beispielsweise vermitteln seine künstlerisch-ästhetische Veranlagung und bilden einen besonderen Schwerpunkt seines Schaffens.

Da ich seine Schrift 'Libellus Stoico-Philosophicus' (stoisch-philosophisches Büchlein) sehr schätze und diese auf Niederländisch verfaßt ist, sei hier der Versuch unternommen, sie ins Deutsche zu übertragen, sodaß sie deutschen Lesern zugänglich wird. Hierin werden philosophische Grundgedanken, die jeden in Philosophie Interessierten ansprechen, behandelt. Im Sinne der stoischen Philosophie wird Wichtigem im Leben des Menschen der richtige Platz zugewiesen und übergreifend-geordnet nebeneinander gestellt.
Jans niederländische, konzise Formulierungen fallen in exakten, deutschen Übersetzungen - den Eigenarten des Deutschen entsprechend - als Text relativ mager aus. Daher habe ich - anfüllend und erweiternd - Hinzufügungen vorgesehen, die hoffentlich in keiner Weise Jans ursprüngliche Absichten durchkreuzen.

Was noch erwähnt werden muß, ist der sokratische Frage-Antwort-Stil, den Jan in seiner Schrift verwendet, was zu ungewöhnlich vielen Fragen mit unmittelbarer Antwort führt.

Ein letzter, wichtiger Punkt sei genannt: Diese Schrift zeigt in ihrer Gesamtheit, daß wir Menschen mit unseren geistig-kognitiven Fähigkeiten nicht imstande sind - was viele Philosophen und große Geister immer wieder versucht haben - unsere Position in der Welt in letzter Konsequenz zu deuten, zu verstehen und zu erklären. Irgendwo und irgendwann läuft man gegen eine Wand, die zu durchdringen unmöglich ist und wohinter wohl die absolute Wahrheit angesiedelt ist. Aus diesem Grunde gibt es augenscheinlich Agnostiker, Atheisten, Rationalisten und Materialisten, vor allem aber spirituelle Menschen - worunter hervorragende Wissenschaftler -, die durch ihren Glauben an Höheres standfest im Leben stehen ohne an irgendeine kirchliche Institution gebunden zu sein..

Da bleibt zu vermelden, daß diese Schrift Jans für mich ein Juwel darstellt, welches häufig gestellte Fragen in einer von Wirrwarr gezeichneten Welt beantwortet.

Diese Übersetzung sei Jan als mein 'In Memoriam' gewidmet, auf daß ich ihn in Erinnerung behalte, diesen Mann mit unbeugsamer Schaffenskraft und Kreativität!

Wilhelm H. (Felix) Vieregge, Januar 2022

0. Einleitung

Was ist der Mensch …? Der Mensch ist erkenntnistheoretisch nicht zu ergründen, da seine Kenntnis über sich selbst eine Funktion seiner selbst ist. Kann man hieraus ableiten, daß die Selbstkenntnis über ihn nichts sagt? Gewiß nicht, denn er weiß, daß er als Tier zwischen Tieren erscheint mit den drei geistigen Funktionen Ratio, Moral und Leidenschaft (Passion), wovon die erste ihn in besonderem Maße auszeichnet und die zweite menschlich-einzigartig dasteht.

1. Über Weisheit und Staunen

Was ist wahre Weisheit? Ist sie eine Eigenschaft oder eine Aktivität des Menschen? Die wahre Weisheit ist das uneigennützige und leidenschaftslose Erfahren von allem, was existiert. Als solche ist sie dem Menschen gegeben, der immer eine Summe von Ereignissen im Kosmos ist, somit auch sein Geist, der alles in Erfahrung bringt und trägt, und eine Unifikation davon ist. Dies gilt ebenso für die wahre Weisheit. Jedoch in ihrer perfekten Form ist die wahre Weisheit ein Zustand vollkommener Ruhe.

Was ist der Beginn aller Weisheit, das heißt: Worin und auf welche Art und Weise offenbart sie sich grundsätzlich? Sie ist nichts anderes als 'Staunen' über alles, was existiert, wie denn das Staunen der Beginn aller Philosophie ist! Alles, was existiert, stellt in unserm Innern den Inhalt unserer Wirklichkeitserfahrung dar so, als wäre dieser außerhalb von uns angesiedelt. Die Art des Staunens besteht im sprachlosen Erfahren des Irreduziblen und des Rätselhaften von allem, was existiert.

Die Fähigkeit zu staunen ist nicht praktizierbar, weil sie uns im gegebenem Moment nur als Leidenschaft, als Passion überkommt. Das Staunen ist insoweit ein Gut, als es der Grund ist für unser Erscheinen an uns selbst und es unsere und ihre eigene Unerfüllbarkeit ans Licht bringt einfach deswegen, weil unserer Moral die Erkenntnis zugrunde liegt, daß Wahrheit besser ist als Lüge und selbst als nichts.

Ist Weisheit dann in ähnlicher Weise ein Gut? Ja, aber sie scheint im kosmischen Sinne nicht gut zu sein nämlich dann, wenn sie die Einheit, Ruhe und Selbstverständlichkeit von allem, was existiert, stört. Müssen wir folglich den Menschen als Träger der Weisheit als das Böse ansehen? Wir müssen den Menschen letztendlich sehen als die Art, wie der Kosmos sich selbst sieht. In diesem Bewußtsein von sich selbst verliert der Kosmos seine Selbstverständlichkeit und wird sich selbst ein quälendes Rätsel. So entsteht in unserm Selbstbewußtsein das Böse durch unsere Moralität, die geistige Funktion, die alles ordnet mit Werten von gut und böse. Der Mensch kann nicht das Böse sein, denn dann würde das Böse sich selbst im reflexiven Selbstbezug definieren.

Was bewirkt nun dieses Staunen? Das Staunen bringt alles, was existiert, in endloser und ruheloser Bewegung in unseren Geist, namentlich durch seine beklemmende Entdeckung und Erfahrung des ewig anderen in allem und des Irreduziblen von allem.

Stellt dieses Staunen nun Glück oder Unglück dar? Man kann zurecht sagen, daß beides der Fall ist. Das Staunen ist ein Glücksfall insofern es die Art und Weise ist, wie wir die Lust des Bestehens in uns erfahren. Doch es stellt eine Art Unglück dar, da es uns zu unerfüllbarem Verlangen führt. Das wiederum läßt die Frage aufkommen, ob man das Staunen nicht bekämpfen müsse …? Nein, solange das Ziel des Staunens noch nicht erreicht ist, welches man als Vollendung der wahren Weisheit in uns ansehen kann.

2. Die drei geistigen Funktionen

Erstens haben wir da die Ratio mit der Frage, was diese sei. In der Ratio-Funktion, in der Verstandes-Funktion sagt der Mensch sich selbst die Wahrheit oder die Unwahrheit. Dem Menschen steht nichts anderes zur Verfügung, was oberhalb dieser Funktion liegen könnte, es sei denn etwas, das durch die Ratio bedacht und letztlich erst mit ihrer Hilfe erkannt und bewertet wird.

Hier tut sich nun die Frage auf, ob sich nicht irgendwer auf so etwas wie 'Glauben' an etwas anderes berufen kann. Die Antwort ist: So jemand verachtet sich selbst und die menschliche Natur, indem er seine durch Vernunft gegebene Grundlage verläßt und sich nicht zu beweisenden, nur zu glaubenden Tatsachen hingibt. Hier stellt sich sofort die Frage: Was ist die Wahrheit? Die Wahrheit ist die durch die Ratio erfahrene Offenkundigkeit der beobachteten Wirklichkeit. Bedarf die Wahrheit dann keines Beweises? Die Wahrheit erfährt man nicht durch Beweise; wohl kann sie durch Beweise ins Interessenzentrum gerückt werden. Gibt es dann außerhalb des Menschen keine Wahrheit? Darauf kann nur erwidert werden, daß alles, was außerhalb des Menschen liegt, prinzipiell nicht erkennbar ist. Immanuel Kant sagte: Das 'Ding an sich' entzieht sich unserer Kenntnis. Nur was ins Innere des Menschen tritt, kann Gegenstand der Erkenntnis sein. So ist die Wahrheit eine Eigenschaft der Erscheinungsform der Wirklichkeit innerhalb des Menschen. Dann ergibt sich die Frage: Gibt es außerhalb des Menschen eine Wirklichkeit? Unsere Ratio, die mit dem Ursache-Wirkung-Gesetz arbeitet, sagt klar, daß 'da draußen' eine Wirklichkeit existieren muß, die unsere Erfahrungen erklärt, die aber in uns nur als 'Bild' der Wirklichkeit existiert.

Sind nun Uneigennützigkeit und Leidenschaftslosheit wichtig zum Beobachten der Wirklichkeit? Jawohl, sie sind wesentlich für eine philosophische Betrachtung der Wirklichkeit, das heißt, eine solche, mit der nur Weisheit erstrebt wird. Leidenschaften trüben die Ratio und die Bilder der durch sie erfahrenen Dinge.

Die zweite Funktion ist die Moral; in dieser Funktion sagt der Mensch zu sich selbst, was gut und was schlecht ist. Das Gute und das Böse werden hier Gegenstand der Betrachtung. Der Urgrund der Moral liegt im Streben von allem Existierenden nach Kontinuität, das heißt nach ununterbrochen-gleichmäßigem Fortgang. Dieses Streben ist ein richtungsgebendes, präskrip-tives Prinzip, in dem Verpflichtung und deren Zustimmung beschlossen liegen. Moralität ist die menschliche Treue zum Lebensimperativ, zum Impetus, leben zu wollen. Unsere Ratio sorgt mit aller Konsequenz dafür, daß diesem Imperativ Folge geleistet wird, wobei der Ursprung des Guten und des Bösen augenscheinlich woanders her stammt. Das Anerkennen und die Legitimierung der Moralität sind Funktionen der Ratio und beruht auf der Sicht ihrer Wirklichkeit.

Was ist nun eigentlich das Gute? An dieser Frage haben sich Philosophen seit eh und je die Zähne ausgebissen. Das Gute als solches hat keine eigene Existenz, sondern wird von der Ratio im Sinne der menschlichen Moralität als Qualität mit eigener Wirklichkeit erschaffen. Dieses gilt ebenso für das Böse! In der Natur außerhalb des Menschen gibt es weder gut noch böse. Wenn der Mensch von der Natur doch solches behauptet, handelt es sich immer um eine anthropomorphe Zuerkennung.

Ob es im Falle von Moralität letztlich um gut und böse im menschlichen Handeln geht, kann man nicht ausschließen oder gar als Hauptsache betrachten. Diese Sichtweise ist sicherlich eine bürgerliche Simplifizierung und Einengung der geistigen Funktion der Bewertung. Aber dafür steht uns kein Term zur Verfügung. Wenn man in diesem Zusammenhang beispielsweise Mord und Inzest betrachtet und sich fragt, wo diese ihren Ursprung haben, ist anzunehmen, daß sie innerhalb der Evolution auf unserem Planeten notwendige Erscheinungen waren. Wie sollte man diese Notwendigkeit verstehen? Alles, was entsteht, fordert aus Eigenbelang, aus eigener Passion um Erhaltung aus externen Quellen. Leben fordert Leben für die eigene Kontinuität. Die Evolution fordert und belohnt das. Die menschliche Moralität bewertet das als böse, insofern es menschliche Handlungen betrifft. Ist dies nicht ein zynischer Standpunkt im Hinblick auf das menschliche Leid? Hier geht es nicht um Standpunkte, sondern um Wahrheit. Im übrigen ist Zynismus keine weise Attitüde gegenüber der Wirklichkeit.

Als dritte Funktion haben wir die Passion oder Leidenschaft, mit der Menschen handeln. Sofort stellt sich die Frage, was denn die Funktion dieser Passion sei. Im Zustand der Passion wird der Mensch von der Welt überwältigt. Er wird durch die Welt und ihren Erscheinungen quasi in den Passions-Zustand hinein katapultiert, ohne es bewußt zu wollen. Dieser stellt das Ergebnis der Überwältigung dar, die als Gemütsbewegungen (Emotionen) unseres Geistes etwas anderes sind als die Ratio oder das Denken. Zu diesen Gemütsbewegungen gehören: Liebe, Haß, Angst, Furcht, Mut, Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Wut, Reue, Ergebung, Vertrauen, Heiterkeit, Zynismus, Ironie, Enttäuschung, Glück, Elends-Gefühl. Sie entstehen nicht aus dem, was wir erfahren als frei Handelnde, sondern durch die Leidenschaften in uns. Gibt es das überhaupt, Freiheit von Handeln? Unserm Handeln liegen Motive zugrunde, die uns bewegen und die in den Bereich der Leidenschaften fallen. Insofern geschieht das Handeln nicht aus echt freien Beweggründen.

Sind die Leidenschaften, die Passionen gut oder schlecht? Die Antwort hierauf wird durch unsere Moralität bestimmt. Falls wir es als böse ansehen, wenn ein Mensch unter Zwang handelt oder durch äußere Einflüsse eingeschränkt wird, dann sind auch seine Passionen als böse anzusehen. Äußere Einflußnahmen sind der Struktur des Kosmos inhärent. So ist beispielsweise unser eigener Körper eine Bedingung des Kosmos auf unsere Person. Eine auf seine eigene Autonomie ausgerichteter Mensch steht - wenn man es so betrachtet - mitten im Bösen.

Erscheint es dann nicht unsinnig, jemanden positiv oder negativ zu beurteilen im Hinblick auf dessen wahrgenommene Emotionen? Es gibt kein rationelles Gegen- oder Pro-Argument im Hinblick auf eine positive oder negative Beurteilung von irgend etwas. Das Einzige, was man sagen kann, ist, daß es irrational ist. Es gibt wohl gesellschaftlich bestimmte Wertschät-zungen, wofür allerdings dasselbe gilt.

Gehören die Passionen dann nicht irgendwie zu unserm Charakter? Ja, wenn man annimmt, daß die passive Beweglichkeit eine geistige Eigenschaft von uns ist. Menschen sind in unterschiedlichem Maße empfänglich, sensibel, durch Emotionen beeinflußbar und in Emotionen zu versetzen. Die Emotionen selbst sind aber fremde Phänomene, die von außen verursacht werden.

Ist der Mensch selbst schuldig für seine Passionen? Ja, denn es ist sein tiefstes Wesen mit all seinen Eigenheiten, die in ihrer Erscheinungsform existieren. Nichts oder niemand konnte ihn versinnen, wollen oder verursachen. Er tat es selbst, wachsend aus Samen und Schleim wie eine wuchernde Pflanze, die auch die Mutter verschlingen würde, wenn das für sein Erscheinen in der Geschichte nötig wäre. Seine Passionen aber, ebenso wie seine Taten in der Weltgeschichte, gehören zu seinem zeitlichen Schicksal, genau so, wie er auch als stofflich-historische Erscheinung sein eigenes Schicksal ist.

3. Über die Unerfüllbarkeit

Im Vorangehenden wurde bereits von der Unerfüllbarkeit des Staunens und von uns selbst gesprochen. Was ist die Unerfüllbarkeit des Staunens? Sie ist gelegen im Nichtbestehen einer Antwort auf das Verlangen, alles zu enträtseln, was existiert. Goethe drückte dieses Verlangen wie folgt aus: "Daß ich erkenne, was die Welt, im Innersten zusammenhält" (Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil. Vers 382-383. Verlag C. H. Beck, München. ISBN 3 406 04723 8).

Wie sieht dann die Unerfüllbarkeit von uns selbst aus? Wir sind Lebende, die wissen, daß am Ende unseres Lebens der Tod steht. Der Tod bedeutet die Vergänglichkeit unseres tiefsten Verlangens: Das Leben.Führt uns denn alles ins Unglück? Nein, nicht alles! Wir sind in den Erscheinungen 'Wahrnehmen-von' und 'Reflexion-über' alles, was existiert, die Selbsterfahrung des Kosmos und seiner eigenen Unerfüllbarkeit. Die wahre Weisheit, die passionslos ist, erfährt das passionslos, also ohne Glück oder Unglück.

Was ist nun die Unerfüllbarkeit des Kosmos? Sie manifestiert sich in der Zeit, das heißt, in endloser und aussichtsloser Vergänglichkeit und Veränderung.

Die wahre Weisheit, ist nicht auch sie unerfüllbar? Sie ist ein Ideal, selbst ein Teil unseres Schicksals; falls sie sich uns offenbart, ist sie dadurch eine Passion. Während unserer Lebenszeit haben wir nichts anderes zur Verfügung als ihr Experiment: Die wahre Weisheit, die passionslose Lilie. Wenn das nicht hinhaut, dann wird alles umgehauen. Sollten wir die wahre Weisheit nicht einfach fahren lassen und in gewollter Unwissenheit leben? Außerhalb der wahren Weisheit ist der Mensch seinen Passionen unterworfen und verläßt damit das einzige tröstende Selbstkonzept 'autonomes Wesen'. Und so erschafft er in vollem Bewußtsein seines Unglücks als falschen Trost: Religion, Kunst und Wissenschaft.

4. Die drei Irrwege des Trostes

Was ist Trost …? Tost besteht im dem Bewußtsein der Ertragbarkeit des Elends. Jeder Versuch, das Elend in der Welt ertragbar zu machen, ist ein Versuch, Trost zu erreichen. Der Zustand, welcher Tost bringt, nennen wir Glück. Darum ist Bedingung des Glücks, sich vom Elend bewußt zu sein. Glück ist eine Passion, die wir nicht einfach machen können; wenn es erscheint, haben wir Glück.

Ist nun Trost vereinbar mit wahrer Weisheit? Nein, denn Trost ist nur in einem Zustand der Passion möglich. Kann also ein Weiser nicht getröstet werden? Ein Weiser befindet sich außerhalb des Trostes, da in ihm die Passion überwunden ist.

Die Religion

Was ist die Religion, wie sollten wir sie sehen? Mit der Religion schafft der Mensch sich eine neue Wirklichkeit in Verbindung mit einem Regelsystem, mit dem alles, was existiert zu einem rettenden System geordnet wird. Kann man folglich die Religion als eine Art von Wissenschaft ansehen? Sie erscheint im ersten Hinblick wie eine Wissenschaft, indem sie alles, was existiert, zu erklären versucht. Sie weicht jedoch aus dreierlei Gründen davon ab: Erstens folgt sie nicht den Gesetzen der Ratio; zweitens entbehrt sie der Forschung, um ihre Regeln zu untermauern, und drittens erstrebt sie Heil anstelle von Wissen und Wahrheit. Dann taucht natürlich die Frage auf, woher die Religion ihre Sicherheit nimmt, wenn die Wahrheit nicht im Erfahren von allem, was existiert, besteht? Diese Sicherheit wird aus ihrem Glauben an die neue Wirklichkeit erreicht, die sie allem, was existiert, hinzufügt. Daraus ergibt sich die neue Frage: Wozu dient die Religion, wer oder was muß gerettet werden? Der Mensch und die gesamte Menschheit müssen gerettet werden aus allem Elend in der Welt und besonders vor dem ewigen Tod. Dabei steht die Annahme einer göttlichen Quelle oder eines Gottes zentral, auch wenn die Ideen hinsichtlich der göttlichen Eigenschaften sehr unterschiedlich sind. Wie sehen dann die philosophischen Eigenschaften einer Religion aus? Man kann sie typisieren mit einer wesentlichen Gutheit von allem, was existiert, und der Annahme, daß alles Böse nur von endlicher Dauer ist.

Und doch kann man die Religion als etwas Schlechtes einstufen, da sie sich gegen die wahre Weisheit richtet, die Ratio mißachtet und auf Unwahrheit beruht. Ist sie dann nicht etwa ein Ansporn, sich sittlich zu verhalten? Ja, gerade so, wie man Kinder vor den Gefahren tiefen Wassers zu warnen sucht, indem man ihnen Fabeln erzählt, die von verborgenen bösen Geistern in tiefen Gewässern berichten.

Dann die kruziale Frage: Gibt es einen Gott? Die Antwort: Etwas wie ein Gott kann nicht zu allem gehören, was existiert, denn auf andere Weise als alles, was existiert, kann nichts bestehen. Es gibt also auch keinen Grund für alles, was existiert? Unsere Ratio ist nicht imstande, über etwas nachzudenken ohne Grund; sie macht es aber auch unmöglich, um über etwas anderes zu denken als über alles, was existiert.

Gibt es einen Unterschied zwischen Religion und Konfession? Ja, Religion ist eine philosophische und Konfession eine gesellschaftliche Erscheinung. Welches sind dann die Merkmale einer Konfession? Alle bestehenden Weltkonfessionen besitzen eine gesell-schaftliche Organisation, meistens mit einer obersten Macht, die das Lehrverhalten der Gläubigen, ihre rechtlichen Funktionen, Pflichten und Strafen regelt sowie die Verspre-chungen hinsichtlich Paradies und Jenseits. Das geschieht meistens mit Unterwerfung freier Menschen durch Schuldverkündigungen.

Die Kunst

Was ist Kunst? In der Kunst erschafft der Mensch sich inmitten seiner Welt wahrnehmbare Wirklichkeiten, die wir mit Staunen als woanders herkommend wahrnehmen und die uns Trost vom Total-Anderen bieten, wonach staunendes Bewundern von allem, was existiert, verweist. So stellt die Kunst einen Trost gegenüber allem, was davor war, dar. Doch kann sie ihrerseits nichts anderes als ein neues unerfüllbares Verlangen hervorrufen. Ist Kunst dann mit wahrer Weisheit zu vereinbaren? Sie ist insofern in Streit mit der wahren Weisheit als sie ein Streben anstelle von uneigennütziger und passionsloser Erfahrung darstellt.

Ist der sich seiner Kunst hingebende Künstler nun ein Weiser? Er, der das eitle Streben hinter sich gelassen hat und sich in den Dienst der Kunst stellt - die ihm zudem neue Wirklichkeiten erscheinen lassen - nähert sich der Weisheit in einem Maße, das ihn dichter an sie heranträgt als irgendein anderer, normal Handelnder. Wenn das uneigennützige und passionslose Erfahren dessen, was existiert, Teil seiner Künstleraktivität ist, dann wird die wahre Weisheit ihm verdeutlichen, daß hieran kein Ausdruck in Form von Kunst hinzugefügt zu werden braucht. Zwingt uns diese Antwort nicht zu einer philosophischen Analyse des menschlichen Handelns im allgemeinen und sein Verhältnis zur wahren Weisheit? Dazu sei bemerkt, daß menschliches Handeln die Art darstellt, wie der Mensch historisch in Erscheinung tritt. Als historisches Phänomen ist der Mensch notwendigerweise ein handelndes Wesen. Handeln ist sein Schicksal ohne Alternative. Die wahre Weisheit ist jedoch ein zeitloses Ruhemoment mitten im Handeln und in der Vergänglichkeit. Eine Analyse des menschlichen Handelns würde darum niemals zur wahren Weisheit führen, da im Hinblick auf bestes menschliches Handeln die wahre Weisheit eine Asymptote formt, sich dem Handeln also nur annähert.

Die Wissenschaft

Was ist die Wissenschaft? Sie stiftet mit Hilfe der menschlichen Ratio und deren Gesetz von Ursache und Wirkung einen Zusammenhang von möglichen Erscheinungen mit anderen möglichen Erscheinungen und liefert dadurch letztlich eine Erklärung für alles, was existiert. Das führt gleich zur Frage, ob Ursache und Wirkung nicht schon in der physischen Wirklichkeit von allem, was existiert, anwesend sind. Ja, aber sie sind nicht wahrnehmbar. Zwei Tatsachen sind beispielsweise wahrnehmbar aber wir begreifen erst ihren Zusammenhang, wenn unsere Ratio ihre Ursächlichkeit konstatiert. Also ist Wissenschaft ohne Ratio nicht möglich? Das stimmt. Wissenschaft ist ohne Ratio undenkbar, da das rationale Gesetz von Ursache und Wirkung das allesbestimmende Merkmal von Wissenschaft ist. Wenn man eine Schallwahrnehmung nicht interpretieren würde als Folge eines Hammerschlags, könnten wir den entstehenden Schall nicht begreifen.

Wieso ist Wissenschaft dann ein Irrweg? Die Wissenschaft ist ein Irren (heute richtig, morgen nichtig), weil sie ein mutloses 'Lebe wohl' an die wahre Weisheit bedeutet. Zum anderen müssen wir sie respektieren, weil die menschliche Unerfüllbarkeit vieles entschuldigt.

Dann ergibt sich die Frage, ob das für alle Wissenschaften gilt. Nun denn, die Wissenschaft zerfällt in verschiedene Teildisziplinen, je nachdem welche Aspekte von allem, was existiert, untersucht werden. So unterscheidet man beispielsweise die Physik und die Geisteswissenschaften. Kein Wissenschaftsgebiet entzieht sich dieser Charakterisierung.

Betreibt man dann Wissenschaft im Hinblick auf Trost? Ja, aber hauptsächlich aus Neugier und prinzipiellem 'Wissen wollen' von allem, was existiert, womit wir das Ziel der Wissenschaft wie folgt formulieren können: Das Begreifen des Zusammenhängens aller Dinge, wobei 'begreifen' meint, dem unerfüllbaren Verlangen, dem im Staunen immer wieder Nahrung gegeben wird, ein Ende zu setzen. Der Trost jedoch kann letztendlich niemals vollständig sein, da immer ein unverstandener Rest übrig bleibt.

Wie steht es dann mit Anwendungen der wissenschaftlichen Resultate in der Gesellschaft und vor allem in der Technologie? Diese praxisorientierten Anwendungen stellen traditionelle, triviale gesellschaftsrelevante Interpretationen des Wissenschaftszieles dar. Reine Wissenschaft ist zweckfrei und damit an keinerlei gesellschaftliche Normen gebunden.

5. Über die Schönheit,

Als erstes wieder die berühmte, sokratische Frage: Was ist Schönheit? Sie ist jene Eigenschaft, in der der weise Mensch alles uneigennützig, ungewichtet und leidenschaftslos erfährt. In diesem einen Satz liegt ein unendlich großes Spektrum an Tatsachen in der Welt beschlossen, die - jede an sich - als schön erfahren wird, wenn man imstande ist ohne irgendwelche Belange und Leidenschaften dieses Erfahren auf sich wirken zu lassen. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein sagte: 'Die Welt ist alles, was der Fall ist' (Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus. Routledge & Kegan Paul LTD, London, 1922, S. 30). Daraus kann man ableiten: Und alles, was der Fall ist, ist schön, weil es der Fall ist. Dieser Schritt wird hier eindeutig getan in der obigen Formulierung.

Dann dringt sich die Frage auf: Kann auch das Böse, das Schlechte schön sein? Da das Böse nicht denkbar ist ohne des Menschen Leid am Bösen, kann dieses nicht schön sein. Dadurch kann er es nicht uneigennützig und leidenschaftslos erfahren.

Kann ein Weiser der Schönheit wegen weinen? Nein, aber sobald er bei einer Schönheitserfahrung durch seine Passion, seine Leidenschaft überwältigt wird, weint er wegen ihrer Unerfüllbarkeit, wobei die Unerfüllbarkeit der Schönheit das Spiegelbild der eigen Unerfüllbarkeit ist.

Was ist wahre Weisheit?

Sie ist die Leidenschaft, die im uneigennützigen und leidenschaftslosen Erfahren von allem, was existiert, gelegen ist.

 

Jan van Bakel, 1. Juli 2000.

 

Deutsche Übersetzung und Erweiterungen: Wilhelm H. (Felix) Vieregge, Januar 2022.


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